Den Eisvogel habe ich nicht entdeckt.
Es ist ein warmer Frühlingsnachmittag, vergangene Woche, als wir noch Ausflüge machen durften. Gleich bei Lübars im Tegeler Fließ strahlen die Wildkirschen in voller weißer Blüte, die Äste wie dick verschneit. Am Köppchensee am Fuß der ehemaligen Mülldeponie stehen wir am Aussichtspunkt. Neben uns ein älteres Ehepaar in Wanderschuhen – beide schauen durch ihre Ferngläser nach unten in das Schilfufer. „Sie sehen so professionell aus. Was beobachten Sie da am See?“ „Einen Eisvogel, da unten gleich rechts neben dem toten Baum“ antwortet die Frau, „aber mit bloßem Auge können Sie ihn nicht sehen.“ Und dann fügt sie mit bedauerndem Lächeln hinzu: „Mein Fernglas kann ich Ihnen ja nicht leihen.“
Nein, das Fernglas kann sie uns nicht leihen. Das habe ich auch nicht erwartet. Am Aussichtspunkt halten wir gebührenden Abstand, sicher drei oder vier Meter. Und ich entdecke etwas anderes, eine neue Achtsamkeit. Dass Sie mir ihr Fernglas nicht in die Hand gibt, das tut sie, um ihre Gesundheit zu schützen und um meine Gesundheit zu schützen. Viele Spaziergänger sind unterwegs, Eltern mit Kindern, Paare und Einzelne – und alle lassen Platz zwischen sich und ihren Mitmenschen. Menschen, die mir begegnen lächeln, nicken sich zu. Den Eisvogel habe ich nicht entdeckt – aber dafür eine neue Achtsamkeit im Umgang miteinander, nicht nur beim Spaziergang im Grünen.
Jeden Tag möchte ich jemandem etwas Nettes sagen, da wo ich noch unbekannten Menschen begegne, der Kassiererin im Supermarkt oder dem Verkäufer an der Backtheke. Und diese neue Achtsamkeit möchte ich mir bewahren – über die Corona-Krise hinaus.
Andreas Laqueur, Berlin